SAWAL . SCHÜLLER . HANKE | HKÜ Kindesentführung Haager Abkommen
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Das Haager Kindesentführungsabkommen (HKÜ) in Wechselwirkung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)

Das Haager Kindesentführungsabkommen (HKÜ) in Wechselwirkung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)

Auf europäischer und internationaler Ebene sind im Familienrecht verschiedene bi- und multilaterale Abkommen zu beachten. Für den Fall internationaler Kindesentführung (International Child Abduction) ist das Haager Kindesentführungsübereinkommen (Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung) einschlägig. Unter Anwendung dieses Übereinkommens ist es möglich ein widerrechtlich in ein anderes Land verbrachtes Kind in das Land seines ursprünglichen gewöhnlichen Aufenthaltes zurückzuführen. Die Rückführung des Kindes hat keinen Einfluss auf die Verteilung des Sorgerechts sondern ist lediglich eine Wiederherstellung des Status quo. Nach dem Haager Kindesentführungübereinkommen, kurz HKÜ, soll es so möglich sein, die materiellen Familienrechtlichen Fragen, wie die der elterlichen Sorge oder des Umgangsrechtes in dem Staat zu klären, an dem das Kind seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt und damit seinen stärksten Bezug hatte (das dies nicht in allen Fällen auch der Realität entspricht soll an dieser Stelle nicht im Vordergrund stehen).

In dem Fall X v. Latvia (Application no. 27853/09), lag der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (European Court of Human Rights) ein vorangegangenes Verfahren unter Anwendung des HKÜ zugrunde.

Frau X, die sowohl die lettische als auch die australische Staatsbürgerschaft innehat, hatte aus einer Beziehung die in Australien eingegangen wurde, ein Kind geboren. Die Geburtsurkunde des Kindes weist keinen Vater aus. Die Kindeseltern lebten noch eine Zeit zusammen und trennen sich dann innerhalb der bisherigen Wohnung. 2008 verließ die Kindesmutter, Frau X, plötzlich Australien und verbrachte das Kind nach Lettland. Nachdem die Kindesmutter in Lettland angekommen war, machte der Kindesvater ein Sorgerechtsverfahren in Australien anhängig. Das Gericht in Australien sprach beiden Eltern, in Abwesenheit der Kindesmutter, das gemeinsame Sorgerecht zu. Die Zentrale Behörde in Australien – die Zentralen Behörden sind für die Zusammenarbeit zur praktischen Umsetzung des HKÜ zuständig – informiert die Zentrale Behörde in Lettland über den Fall vermutlicher Kindesentführung durch Frau X. Das zuständige Gericht in Lettland ordnete in erster Instanz die Rückführung des Kindes an, Bedenken, dass eine Rückführung zu psychischen Schädigungen bei Kind führen könne, wies das Gericht zurück. Auch in der Beschwerdeinstanz wurden diese Bedenken, die unter anderem mit einem psychologischen Gutachten von der Kindesmutter untermauert wurden, zurück. Das Beschwerdegericht bestätigte die Entscheidung der ersten Instanz mit dem Hinweis auf Art. 19 HKÜ, der festlegt, dass eine Anordnung nach dem HKÜ keine Sorgerechtsentscheidung sei.

Die Kindesmutter verweigerte sich in Folge dieser Entscheidungen einer Rückführung des Kindes. Der Kindesvater, der zufällig auf die Kindesmutter und das Kind in Lettland traf verbrachte daraufhin das Kind eigenmächtig zurück nach Australien.

2009 sprach das Familiengericht in Australien dem Kindesvater das alleinige Sorgerecht zu. Die Kindesmutter erhielt ein begleitetes Umgangsrecht. Es wurde ihr verboten mit dem Kind in Lettisch zu kommunizieren.

Die Kindesmutter rief daraufhin den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg an. Sie machte eine Verletzung ihrer Recht durch die Entscheidungen der lettischen Gerichte geltend, die einseitig den Fall betrachtete hätten insbesondere mit Hinblick auf die Feststellung des Kindeswohls (best interests of the child). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüfe eine Verletzung von Art. 8 EMRK, eine Vorschrift welche unter anderem das Familienleben (family life) schützt.

Die Regierung hat – folgerichtig – eine Verletzung von Art. 8 EMRK abgelehnt.

Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Rückführungsanordnung des lettischen Gerichts eine Verletzung des Rechtes auf das Familienleben der Kindesmutter darstellt, da das lettische Beschwerdegericht unter Anbetracht des Gutachtens des (Kinder)Psychologen nicht andere Möglichkeiten zur Wahrung des Kindeswohls und der Interessen des Kindesvaters in Betracht gezogen hat, zumindest hätte das lettische Gericht die Möglichkeit prüfen müssen inwieweit es der Kindesmutter möglich ist dem Kind nach Australien zu folgen und dort Kontakt mit dem Kind zu halten. Letztlich hat der Gerichtshof dem lettischen Gericht Oberflächlichkeit in der Prüfung der Gesamtsituation vorgeworfen.

Diese Entscheidung erging im Jahr 2013 aber hat nach wie vor Auswirkung, da es zwar zu keiner Rückführung des Kindes gekommen ist, die Entscheidung aber natürlich deutlich macht, dass sich die Kindesmutter a) sehr wohl auf dem Boden des europäischen Rechts bewegt hat, dies ist insoweit gegenüber den australischen Behörden relevant, und b) ist diese Entscheidung „Korrektiv“ für die Vielzahl der europäischen Gerichte die mit HKÜ Fällen befasst sind und so sicherlich gewisser Garant für eine einheitliche Rechtsprechung in Verantwortung gegenüber der EMRK. Dies jedenfalls ist eine positive Sichtweise auf die Entscheidung. Pessimisten würden sicherlich die sehr „überschaubaren“ tatsächlichen Konsequenzen der Entscheidung kritisieren. 

Es bleibt dabei, eine beachtenswerte Entscheidung.



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